Interviews und Texte über Trauer

Hier finden Sie verschiedene Texte, in denen es um trauernde Menschen geht – um ihre wühlenden Gefühle, das Ringen um Sinn und um meine Unterstützung als Trauerbegleiterin:


Vera Bartholomay hat mich in ihrem Buch über die Gefühle von trauernden Menschen interviewt: Herzen berühren, LebensGutVerlag 2022

Vera Bartholomay: Mit deiner Arbeit bist du ja direkt in Berührung mit Menschen, die sich gerade in einer Ausnahmesituation befinden. Wie erlebst du das?
Eva Vogt: Ich empfinde eine große Intensität. Und ich staune immer wieder, wie schnell wir in ein offenes und vertrauensvolles Gespräch finden. Dann geht es um sehr schmerzhafte Dinge und wesentliche Fragen: Was macht mein Leben aus, was hält mich noch, wie kann es weitergehen?

VB: Haben sich Menschen, die zu dir kommen, schon länger mit solchen Fragen beschäftigt?
EV: Ja, die meisten haben sich schon eine Weile mit ihrer Situation beschäftigt und sind an einen Punkt gekommen, an dem sie merken, dass sie Hilfe brauchen. Viele der Menschen schätzen den sicheren Raum, in dem sie mit mir auf ihre Dinge schauen können. Im Gespräch stelle ich Fragen und gebe Impulse. Manchen Menschen reicht es, dass ich zuhöre.

VB: Wie erlebst du die Leute, wenn sie das erste Mal zu dir kommen? Mit welchen Fragen oder Hoffnungen kommen sie zu dir?
EV: Die meisten Menschen fangen einfach an zu erzählen, und ich spüre nach einer Weile, dass sie sich entspannen – und wo es wohl so langgehen könnte. Es gibt häufig den Wunsch nach Orientierung. Sie fragen sich, ob es normal ist, wie sie sich fühlen, oder wie sie einsortieren können, was sie erleben. Oder wie lange dieser Trauerzustand noch andauern wird. Viele sind verunsichert, weil befreundete Bezugspersonen wegbrechen, die mit der neuen Situation nicht umgehen können. Oftmals taucht auch die Frage auf, ob es überhaupt einen Sinn ergibt, allein weiterzuleben. Es gibt auf jeden Fall ein großes Bedürfnis zu erzählen. Und für die meisten ist es leichter, einem Menschen etwas zu erzählen, als es beispielsweise nur einem Tagebuch anzuvertrauen.

VB: Glaubst du, es ist leichter, mit dir offen zu reden als mit einer nahestehenden Person?
EV: Ich glaube schon, denn in der Familie oder bei befreundeten Bezugspersonen hat man oft Angst, die anderen zu belasten. Vielleicht denkt man: „Jetzt haben sie dir schon so oft zuhören müssen, ich kann jetzt nicht schon wieder damit anfangen.“ Und manche Gefühle und Gedanken scheinen unzumutbar. Es hat eine andere Qualität, einen eigenen Raum zu haben, in dem man keine Rücksicht nehmen, sich nicht zurücknehmen muss, in dem es nur um einen selbst geht.

VB: Welche anderen Themen oder Gefühle gibt es häufig am Anfang?
EV: Viele Menschen stellen fest, wie gut das Leben mit der verstorbenen Person war, wie viele kleine, wichtige Dinge sie im Alltag geteilt haben. Und sie fragen sich, wie es denn jemals wieder gut werden soll. Bei vielen Menschen spüre ich, dass sie ihren Weg finden. Als Erstes aber steht an, festzustellen und anzuerkennen, dass das Leben gerade unendlich traurig und trostlos erscheint. Meine Zuversicht kann ich auch ohne Worte ausstrahlen.
Als Orientierung hilft das Bild einer Pendelbewegung: Manchmal pendelt man mit den Gedanken zurück in die Vergangenheit, zu allem, was gewesen ist – und dann pendeln die Gedanken in die Zukunft. Dort kann man ein paar Blicke werfen auf das, was kommen kann, auch wenn es vielleicht im Moment Angst macht oder unvorstellbar ist. Und dazwischen ist immer das Hier und Jetzt.

VB: Das Bild von dem Pendel gefällt mir gut. Zu wissen, dass ein Pendel, das gerade stark in die Vergangenheit zurückschwingt, da nicht hängen bleiben kann. Es wird sich wieder bewegen.
EV: Ein anderes Bild, das ich gern benutze, ist das Schatzhüten. Eine Person ist gestorben und eine lebt weiter. Diese Person kann den Schatz der Erinnerung hüten. Sie ist aber nicht an diese Erinnerungstruhe gefesselt und kann sich voll dem Leben zuwenden, kann Freude empfinden, Dinge unternehmen und später wieder zur Truhe zurückkehren. Denn die bleibt ja da. Man kann die Truhe immer wieder öffnen, kann auch eine Weile daneben sitzen bleiben. Man darf aber auch jederzeit aufbrechen.

VB: Manchmal hört man von Trauernden, dass sie beinahe Angst haben, ihre Trauer zu verlieren. Als würden sie dann die verstorbene Person noch einmal verlieren.
EV: Ja, es gibt durchaus die Angst, dass Gefühle und Erinnerungen verblassen können und man dadurch die Verbindung zum Verstorbenen verlieren könnte. Oder die Sorge, das alte Leben zu verraten, wenn man sich immer mehr dem neuen Alltag zuwendet. Auch die Idee, sich wieder zu verlieben, geht mit gemischten Gefühlen einher. Dabei ist ein Herz ja groß, da passen mehrere Menschen in einem Leben hinein. Man kann dem verstorbenen Menschen nicht untreu werden, den behält man im Herzen. Die Verbindung bleibt bestehen.

VB: Wie gehen die Menschen mit schwierigen Gefühlen wie Wut, Groll oder Vorwürfen um? Wenn sie wütend sind über Dinge, die die Verstorbenen getan oder nicht getan haben, oder darüber, wie sie gestorben sind.
EV: In der Regel machen die Leute sich eher selbst Vorwürfe darüber, was sie nicht getan haben oder was sie hätten anders machen können. Es gibt die Wut darüber, dass die verstorbene Person sich nicht so verhalten hat, wie man sich das gewünscht hätte, zum Beispiel, dass sie über das Sterben nicht sprechen wollte oder Geheimnisse hatte – und nun kann man keine Fragen mehr stellen oder einen Konflikt auflösen. Die Gefühle zu benennen und die Situation genauer zu beleuchten, das kann schon entlasten. Manchmal empfindet man zuerst Wut und später Trauer über das, was nicht mehr möglich ist. So ist es auch mit der Wut, dass einer viel zu früh geht. Das gibt es oft bei den späten Lieben: Da hast du endlich diesen einen Menschen im Leben gefunden, und dann stirbt er, und du bist fassungslos.

VB: Was macht man, wenn das Herz zerbrochen ist?
EV: Mit einem zerbrochenen Herzen kann man ja eigentlich nicht mehr leben. Ich spreche lieber von einem wunden Herz und unterscheide zwischen versehrten und unversehrten Menschen. Menschen mit Verwundungen, die eine Krise durchlebt haben, sind reicher um eine wesentliche Erfahrung, sie haben eine besondere Tiefe. Ich biete an, diese Wunde behutsam zu behandeln und sie anzunehmen. Es geht immer wieder darum, gut mit sich selbst umzugehen.

VB: Gibt es etwas, von dem man nie so wirklich Abschied nehmen kann, was einen immer begleiten wird?
EV: Manchmal ist es wichtig, etwas bewusst behalten zu wollen – Erinnerungen oder Gegenstände – und dafür einen Platz zu schaffen. Die meisten Menschen sagen klar, dass die Erinnerungen immer bleiben werden, dass sie das auch so wollen: Sie leben weiter mit dem Verlust. Die Trauer kann auch eine Verbindung zu anderen Menschen herstellen. Dann stellt man fest, es gibt den Verlust, aber auch Geschenke.

VB: Manchmal wird ja nach dem Warum gefragt. Warum ist mir das gerade passiert oder was soll es mir sagen? Zum Beispiel, wenn man ganz viele Verluste hintereinander hatte. Warum ich? Warum wird mir alles genommen?
EV: Mit diesen Fragen gilt es erst einmal zu leben. Weder hilft es, nach einem Sinn zu suchen, noch sich als Opfer zu begreifen. Wir schauen dann eher genauer hin, was denn noch da ist. Und wie man Tag für Tag gut für sich sorgt, um zu überleben. Es gibt Situationen voller Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit. Da kann man nicht so leichtfertig sagen, dass alles schon wieder gut wird. Ich glaube, es ist wichtig, einen großen Respekt vor dem zu haben, was eine andere Person erlebt – und wie sie ihren Weg geht.

VB: Was tut den Menschen besonders gut in der Trauersituation und welche Erfahrungen sind besonders schmerzhaft im Umgang mit anderen Menschen?
EV: Es ist schon von großer Bedeutung, wie das nähere Umfeld reagiert. Alles, was authentisch und sensibel ist, tut gut. Floskeln tun eher weh. Trauernde haben ein sehr gutes Gespür dafür, ob eine Geste ernst gemeint ist. Sie prüfen kritisch, wen sie in ihrer Nähe haben wollen. Auffallend viele machen die schmerzhafte Erfahrung, dass sich die Menschen in ihrem privaten Umfeld verändern. Die einen kommen vielleicht vorbei und sind eher eine Belastung, die anderen kommen gar nicht oder halten sich bedeckt. Und dann gibt es noch die Menschen, die wie aus dem Nichts auftauchen und das Richtige tun. Fast ein Glück im Unglück ist es, wenn man merkt, meine Beziehungen tragen – ich finde Rückhalt bei den Menschen, die mir vertraut sind.
Wenn ich Gruppen wie den Trauerspaziergang anbiete, finde ich es besonders schön, wie sich untereinander ein Gefühl des Verbündetseins entwickelt: Ich bin nicht allein. Anderen geht es genauso, und wir gehen ein Stück zusammen. Da begegnen sich unterschiedliche Menschen, die in einer ähnlichen Lage sind. Die dann einfach gemeinsam durch den Wald spazieren, unterwegs eine Tasse Kaffee trinken und vielleicht sogar über etwas gemeinsam lachen können. Dieses Gefühl einer Zugehörigkeit ist sehr viel wert!



Ein Interview mit mir über meine Arbeit als Trauerbegleiterin, über Trauer-prozesse, Ebbe und Flut steht im: Tagesspiegel-Magazin 'Pflege' 2020

Frau Vogt, Sie versuchen Menschen zu helfen, die mit dem Tod eines Angehörigen allein nicht zurechtkommen. Wer genau sucht bei Ihnen Rat?
Es gibt viele trauernde Menschen, und nur wenige von ihnen suchen nach Hilfe. Die Menschen, die zu mir kommen, haben ein Bewusstsein dafür, dass ihnen eine professionelle Begleitung guttun könnte – und sie haben den mutigen Schritt getan, sich bei mir zu melden.

Wie werden die Trauernden auf Sie aufmerksam?
Manche kommen über Empfehlungen, aber die meisten haben mein Angebot im Internet gefunden. Es melden sich Frauen und Männer im Alter zwischen 35 und 75 Jahren, deren Lebensgefährten, Elternteile oder Geschwister gestorben sind. Am häufigsten habe ich mit Menschen zu tun, die um den Verlust ihres Partners trauern, und damit auch um eine gemeinsame Zukunft: „Was fange ich jetzt eigentlich mit mir an?“

In welcher Phase der Trauer melden sich die Betroffenen bei Ihnen?
Irgendwann gibt es den Zeitpunkt, an dem man merkt, dass es so nicht weitergeht. Das passiert häufig im ersten Trauerjahr. Dann melden sich die Trauernden bei mir und berichten zum Beispiel von einem Gefühl der Leere. Selten kommt es vor, dass sie sich schon ein oder zwei Wochen nach dem Tod bei mir melden, da ist man ja noch mit der Beerdigung und viel Bürokratie beschäftigt. Da sind die Angehörigen noch gar nicht zur Ruhe gekommen, haben sich noch nicht mit sich selbst beschäftigen können. Viele Trauernde beschreiben, dass sie dann erst einmal „funktionieren“ oder sich irgendwie über Wasser halten. Das kostet viel Kraft. Es gibt eine große Sehnsucht nach Erleichterung, nach Orientierung und Geborgenheit. Und es stellt sich die Frage nach dem Sinn im Leben.

Wie genau äußert sich Trauer?
Trauer verbraucht grundsätzlich viel Energie, auch wenn man es nicht direkt spürt oder sieht. Das hat auch körperliche Auswirkungen: Die Konzentration leidet, man hat Schlafstörungen, Probleme mit dem Essen et cetera. Viele Trauernde fühlen sich wund, schutzlos, wie amputiert. Das vertraute Gegenüber fehlt. Trauerprozesse verlaufen sehr unterschiedlich. Wenn man sich jahrelang, jahrzehntelang aufeinander verlassen und eingelassen hat, ist es unglaublich schmerzhaft, auf sich selbst geworfen zu sein. Es gibt verschiedene Gefühle, die man dann durchleben kann: Verunsicherung, Ohnmacht, Verzweiflung, Wut, Scham oder Schuld. Manchmal gibt es auch ungelöste Konflikte, die dann schwer zu schaffen machen.

Was bieten Sie den trauernden Menschen an?
Die Menschen, die zu mir kommen, haben das Bedürfnis, dass ihnen aufmerksam zugehört wird, dass sie Orientierung und Impulse bekommen. Oder sie wünschen sich Austausch in einer Gruppe, in der sie auf andere Trauernde treffen, die etwas Ähnliches erlebt haben. Trauernde sind oftmals sehr darauf bedacht, ihr Umfeld nicht zu überfordern, auch wenn Freunde oder Angehörige auf ihre Art wertvolle Unterstützung leisten. Und fast alle stoßen auf Aussagen wie: „Es muss doch jetzt auch mal gut sein mit dem Trauern.“ Ich gebe den Menschen also einen Raum, in dem sie ihre Gedanken und Gefühle unzensiert ausdrücken können. Ich erkenne ihren Zustand an: Ja, so ist es gerade. Es gibt nichts schönzureden, es gibt keinen billigen Trost. Die Seele braucht Zeit.

Wie lange dauern solche Trauerprozesse?
Viele Menschen sind unsicher, ob sie zu lange oder falsch trauern. Die eigene Ungeduld mischt sich mit den Bemerkungen im Umfeld: „Ach, du trauerst immer noch?“ Ich erkläre dann, dass es in der Trauer wie bei Ebbe und Flut hin- und herschwappt und mit der Zeit etwas gewohnter und weniger heftig wird. Der Weg durch das Niemandsland, vom alten zu einem neuen Leben, braucht viel Zeit. Es handelt sich um eine tiefgreifende Veränderung im Leben, das dauert Jahre.

Wie verhalte ich mich gegenüber einem Freund oder einem Bekannten, der einen wichtigen Menschen verloren hat?
Sie können überlegen, was Sie sich selbst zutrauen und dieser Person zuverlässig anbieten können. Hilfe versprechen und dann keine Zeit haben, das ist schwierig. Sätze wie „Ich bin immer für dich da!“ mögen zwar nett gemeint sein, bleiben aber schwammig. Sie können konkrete Fragen stellen wie „Kann ich dir etwas zu essen mitbringen?“ „Soll ich nächsten Montag zu dir kommen?“ und sich konkret erkundigen: „Wie hast Du geschlafen?“, „Wie bist Du durch die letzte Woche gekommen?“ Sie können Angebote machen und Fragen stellen – und auch Absagen akzeptieren. Ratschläge oder kluge Sprüche tun vor allem weh. Mit Offenheit, Geduld und ehrlichem Interesse sind Sie ein wunderbarer Begleiter.

Der Verlust eines Menschen begleitet einen wohl ein Leben lang. Wann aber ist der Zeitpunkt gekommen, an dem nicht ausschließlich die Trauer den Alltag bestimmt?
Es schleicht sich langsam ein. Man muss gar nichts dafür tun. Plötzlich merkt man: „Ich habe mich ja gefreut“ oder „Ich habe mich was getraut.“ Auf einmal kann man dem Leben wieder etwas abgewinnen. Mit Menschen, denen es schwerfällt, sich Freude oder Neugier zuzugestehen, schaue ich genauer auf die Hindernisse. Ich denke, es geht darum, für sich einen stimmigen Umgang mit dem Verlust und dem vergangenen Leben zu finden, um sich dann für Neues zu öffnen. Manchmal kommen Impulse aus einem heraus, vielleicht in Form eines Traumes – und manchmal kommen sie auf einen zu, zum Beispiel als Anruf einer alten Freundin aus der Schulzeit.

Was raten Sie jemandem, der erst vor Kurzem einen Menschen verloren hat? Was kann er tun, um die nächsten Wochen und Monate besser durchzustehen?
Es ist immer hilfreich, wenn man Menschen um sich hat, die einfach nur da sind und uns mal in den Arm nehmen. Eine große Unterstützung ist auch die Begleitung beim Gang zum Bestatter und bei organisatorischen Dingen. Auch ist es sehr von Nutzen, wenn man seine Grenzen klarmacht: „Ich brauche jetzt Zeit für mich“ oder „Ich möchte das alleine machen“. Erst einmal geht es nur um ganz kleine Schritte, vom Morgen bis zum Abend, von Tag zu Tag. Manchen Menschen hilft es, sich mit Unternehmungen abzulenken, andere ziehen sich lieber zurück. Vielleicht gelingt es, ab und zu auch mal das gegenteilige Prinzip zuzulassen. Auf lange Sicht geht es darum, sich selbst neu kennen- und lieben zu lernen.



Ein Beitrag von mir zum Thema Trauer und Trauerbewältigung findet sich im: Krebs Mut-mach-Buch 2019 (herausgegeben von Christel Schoen)

Die heilende Kraft der Trauer

Angst zu sterben
Und Angst zu leben
Hielten sich die Waage noch immer.
Natur trug unbekümmert ihr altes Gewand.
Herzzerreißende Schönheit.
Das Leben war noch immer ein Geheimnis.
Der Tod ein andres.

Marie Luise Kaschnitz

Das Leben ist geheimnisvoll und kostbar, es kann uns Angst machen und Freude bereiten. Manchmal läuft es rund, mal gerät es aus der Bahn oder ins Stocken. In jedem Lebenslauf finden sich Höhen und Tiefen, Hürden, Umwege, Brücken und grüne Auen. Wir haben ein Leben lang mit kleineren und größeren Veränderungen, Verlusten oder Abschieden zu tun. Wir sind traurig, ängstlich, wütend, erschüttert – und finden mit der Zeit wieder auf die Spur. In Krisenzeiten spüren wir deutlich unsere Angst, wir spüren aber auch unseren Mut und unseren Überlebenswillen, selbst wenn wir nicht genau benennen können, was da in uns wirkt.

Der Tod, so formuliert es die Psychologin Verena Kast, ragt in unser Leben immer schon hinein. Und doch sind wir fassungslos, wenn ein uns naher Mensch stirbt. Dann fühlen wir tiefen Schmerz und große Verunsicherung. Unser System gerät durcheinander: Wir haben die vertraute Bezugs-Person, einen wichtigen Resonanz-Körper verloren. Manche Menschen fühlen sich wie amputiert. Andere sind wie betäubt oder überwältigt von ihren Gefühlen und Gefühlsschwankungen.

Diese langwierige Zeit der Unordnung und des Ordnens, diese besondere Identitätskrise wird Trauer genannt. Wir leiden unter dem Verlust des geliebten Menschen und wir leiden, weil uns gerade jetzt Trost, Rückhalt und Wärme dieser Person fehlen. Wir leiden auch, weil sich andere Menschen in unserem Umfeld oft hilflos und distanziert verhalten. Wir sind auf uns selbst zurückgeworfen.

Nach und nach können wir erkennen, wie die heilende Kraft der Trauer in uns wirkt, wie sie uns sanft leitet. Wenn es uns gelingt, diesem natürlichen Heilungsprozess Vertrauen zu schenken, können wir unseren Schmerz, unsere Angst, Verzweiflung, Wut und Ohnmacht, unser Lachen und unsere Sehnsucht leichter wahrnehmen und uns immer wieder beruhigen. All diese Gefühlsregungen sind Hinweise, mit denen wir etwas anfangen können: Was sagt mir die Angst? In welche Richtung weist die Sehnsucht?

Trauernde Menschen haben die Möglichkeit, Erfahrungen zu sammeln, was ihnen guttut und was ihnen nicht bekommt. Wir spüren, welch ungeheure Wucht die Trauer hat, und wir können auch herausfinden, dass sich unser Leben in dieser Zeit bewusst gestalten lässt: Es tut gut, sich zurückzuziehen, wenn uns danach ist – und lieben Menschen zu begegnen, wenn wir uns nach Geborgenheit und Fürsorge sehnen.

Manchmal ist es ein wichtiger Schritt, sich professionelle Unterstützung zu suchen. In vertraulichen Einzelgesprächen lässt sich in Ruhe besprechen und sortieren, was der Verlust eines geliebten Partners oder Freundes, eines Eltern- oder Geschwisterteils in uns auslöst, und wie wir unsere Erinnerung bewahren können. Oftmals fällt es auch leichter, die Selbstheilungskräfte in sich zu spüren, wenn uns jemand darauf aufmerksam macht. Und vielen hilft es, dass ihr Ausnahmezustand gesehen, anerkannt und auch erklärt wird. In einer Welt, die kopfsteht, sind wir erst einmal orientierungslos. Landkarten gibt es nicht dafür, aber Wegbegleiter – wenn wir wollen.

Wir verändern uns durch die Trauer und wir lernen uns selbst neu kennen. Trauer ist eine Emotion der Wandlung. Sie gibt uns die Gelegenheit, uns intensiv und radikal mit unserem Leben auseinanderzusetzen. Wir entwickeln eine neue, andersartige Beziehung zu dem Menschen, der gestorben ist, finden dafür Orte, Symbole, Rituale. Indem wir zu fassen versuchen, was wir verloren haben, werden wir auf besondere Art vertraut mit unseren Empfindungen.

Sind wir früher schon gut im Kontakt mit unserer Gefühlswelt gewesen, dann kann es etwas leichter sein, sich auf die Trauer einzulassen, ihre Qualitäten anzuerkennen und Geschenke entgegenzunehmen – in Form von erfreulichen Begegnungen, liebevollen Gesten oder bereichernden Träumen. Die meisten Trauernden, denen ich begegne, sind in ihrer Versehrtheit mutige und feinfühlige Wesen. Sie haben sich entschieden, mit der Erinnerung an die verlorene Person und mit der Erfahrung der Sterblichkeit weiterzuleben. Vielleicht haben sie oft mehr Lebensmut, als sie selbst glauben.

Es berührt mich tief, wenn ich miterlebe, wie sich Menschen über Jahre entfalten, wie aus dem notwendigen Überlebensimpuls eine neue Lebendigkeit erwächst. Als hilfreich empfinden trauernde Menschen auch den Austausch mit anderen, die Ähnliches erlebt haben: In einer Trauergruppe oder bei einem Trauer-Spaziergang können sie über ihre Verluste und Fragen miteinander reden. Für alle ist es dabei von großer Bedeutung, dass sie in einer geschützten und wohlwollenden Atmosphäre andere Menschen und deren Erfahrungen kennenlernen.

Erleichtert und gelöst, manchmal heiter, gehen sie dann auseinander. Die Tage darauf klingt das Erlebte oder Gehörte nach. Der Schmerz, die Angst klopfen wieder an. Es geschehen keine großen Wunder. Die zarten Hoffnungsschimmer und Lichtblicke aber glimmen auf wie Glühwürmchen an dunklen Tagen.



Ein früher Artikel über mein Praktikum in einem ganzheitlichen Bestattungs-haus ist in der Wilmersdorfer Gemeindezeitung erschienen: Himmel & Erde 2009

Herzlich Willkommen

Wenn ein naher Mensch gestorben ist, beginnt eine besondere, kostbare Zeit. Ich möchte mit diesem Artikel Mut machen, auf die eigenen Wünsche zu achten und bewusst Abschied zu nehmen. Im Frühling 2008 habe ich in einem Bestattungshaus als Praktikantin mitgearbeitet und eine sehr lehrreiche und beglückende Zeit verbracht. Ich habe erlebt, wie die Bestatter respektvoll, engagiert und behutsam mit den Menschen umgegangen sind – mit den Verstorbenen und mit den Hinterbliebenen.

Das Bestattungshaus heißt Horizonte und wird in Freiburg von zwei Frauen und einem Mann geführt. Diese drei waren vor der Gründung in verschiedenen pädagogischen und therapeutischen Berufen tätig und mit ihrem ganzheitlichen Ansatz haben sie eine außergewöhnliche Atmosphäre geschaffen, die schon beim Betreten der Raume zu spüren ist.

Die Innenarchitektur steht im Zusammenhang mit der integrativen Haltung der Bestatter: Bei der Ankunft betritt man einen langen Flur, der am Ende zu einem großen Tisch führt, auf dem immer Kerzen und bunte Blumen stehen. Der Flur verbindet im vorderen Bereich das Büro mit einem Besprechungszimmer und einem größeren Trauerfeierraum und hinten den Platz um den Tisch herum mit zwei Abschiedsräumen und dem Versorgungsraum.

Dieses Miteinander der Räume stellt eine große Nähe her zwischen den einzelnen Arbeitsbereichen, die sonst meist getrennt sind. Begegnungen aller Art sind hier möglich, Trauemde können jederzeit kommen und gehen und ihre Toten besuchen, es gibt ernste Gespräche neben geschäftigem Treiben. Leben und Tod finden hier zusammen. Das kann beruhigend, aber auch bedrohlich wirken. Die Bestatter helfen hier, der Angst zu begegnen, sie vielleicht auch zu überwinden oder aber ihre Begrenzung zu respektieren. Die unterschiedlichen Gefühle, die mit dem Tod einhergehen, werden weder übergangen noch breitgetreten, sondern benannt und anerkannt.

An einem Beispiel möchte ich veranschaulichen, wie sich ganz leise die Qualität der Bestatter entfaltet und wohl tut. Herr Rösch (Name geändert) ruft an, seine Frau ist im Morgengrauen nach langer Krankheit gestorben. Die nötigen Daten werden aufgenommen, es wird verabredet, dass Frau Rösch am Abend abgeholt wird, damit er noch ein wenig Zeit mit ihr verbringen kann, und auch der Sohn, der am Nachmittag nach der Arbeit vorbeikommen will.

Am Abend fahren wir mit einem Sarg zu Familie Rösch. Sehr rücksichtsvoll, so als wäre Frau Rösch noch am Leben, wird sie mit einem frischen Laken in den Sarg umgebettet, Mann und Sohn fassen mit an. Dann suchen sie ihr Lieblingskleid, Unterwäsche und Schuhe zusammen, die Frau Rösch auf ihrer letzten Reise tragen soll. Herr Rösch weint bitterlich, als er seine Frau das letzte Mal anschaut, und hilft dabei, den Sarg zu schließen. Er winkt noch dem Auto hinterher, auch wir haben Tränen in den Augen.

Schon gleich nach der Rückkehr waschen wir Frau Rösch und ziehen ihr das Sonntagskleid an, ich mache ihr die Haare schön und creme ihre Hände ein. Wir legen sie zurück in den Sarg, der offen in einem der beiden Abschiedsräume aufgebahrt wird. Dort stehen schon frische Blumen und am nächsten Morgen zünde ich für Frau Rösch eine Kerze an und schreibe ihren Namen mit Kreide auf die Tafel an der Tür.

Als Herr Rösch zu uns kommt, um die weiteren Schritte durchzugehen, laden wir ihn ein, seine Frau noch einmal zu besuchen. Aber das scheint ihm zu schmerzhaft, er lehnt ab. Sein Sohn hingegen ist froh über die Gelegenheit, die Mutter noch einmal so schön zu sehen, sich von ihr in Ruhe zu verabschieden – das habe er nicht zu träumen gewagt und gäbe ihm ein erhabenes Gefühl. Ein Trompeter soll am Grab spielen, sonst aber soll es eine einfache Feier werden. Äußerlichkeiten haben für Herrn Rösch keine Bedeutung – seine Frau trage er nun in seinem Herzen.

Menschen in Trauer können sehr unterschiedliche Bedürfnisse haben. Während meines Praktikums habe ich erlebt, wie die jeweiligen ganz individuellen Ideen und Wünsche ermöglicht wurden, die den Familien geholfen haben, Abschied zu nehmen.

Ich möchte Sie dazu ermutigen, sich mit den eigenen Wünschen und Vorstellungen zu beschäftigen, sie ernst zu nehmen und vielleicht sogar frühzeitig Ausschau zu halten, wer dafür eine gute Unterstützung sein kann.


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