Gedichte, eine kleine Auswahl

Den Morgen nach
meinem Tod
werden wir in Cafés sitzen
aber ich werde nicht
dort sein
ich werde nicht sein

Etel Adnan


Aufhebung

Sein Unglück
ausatmen können

tief ausatmen
so dass man wieder
einatmen kann

Und vielleicht auch sein Unglück
sagen können
in Worten
in wirklichen Worten
die zusammenhängen
und Sinn haben
und die man selbst noch
verstehen kann
und die vielleicht sogar
irgendwer sonst versteht
oder verstehen könnte

Und weinen können

Das wäre schon
fast wieder
Glück

Erich Fried


Dein Schweigen

Du entfernst dich so schnell
Längst vorüber den Säulen des Herakles
Auf dem Rücken von niemals
Geloteten Meeren
Unter Bahnen von niemals
Berechneten Sternen
Treibst Du
mit offenen Augen.

Dein Schweigen
Meine Stimme
Dein Ruhen
Mein Gehen
Dein Allesvorüber
Mein Immernochda.

Marie Luise Kaschnitz


Du hast ein Recht auf deine Trauer

Du hast ein Recht auf deine Trauer.
Du darfst dich deinen Verlusten widmen,
musst nicht verdrängen, was dich beschwert.
Du hast ein Recht, das abzutrauern,
was dich so tief enttäuscht hat
und was du nicht ändern kannst.

Du hast ein Recht auf deine Tränen,
auf dein Schweigen, auf deine Ratlosigkeit,
auf deine innere und äußere Abwesenheit.
Du musst nicht den Glücklichen spielen,
nicht über den Dingen stehen.

Du hast ein Recht, die wegzuschicken,
die dich mit Gewalt aus deiner Trauer
herausholen wollen, weil deine Trauer sie selbst bedroht.
Du hast ein Recht auf deine Trauerzeit.

Du hast ein Recht, mit denen nicht reden zu wollen,
die dir ein schlechtes Gewissen machen
für deine Dunkelheit und Trauer.
Die dich mit ihren Sprüchen unter Druck setzen wollen.
Du hast ein Recht auf deine Trauerstille.

Du hast ein Recht, dich zu wehren gegen die,
die dir sagen, was du fühlen darfst und was nicht,
die dich nicht als Einzelnen, sondern als Fall behandeln
und sich innerlich nicht wirklich mit dir einlassen.

Nichts ist so menschlich wie deine Trauer.
Über sie kann ein Trauernder sich dir nähern
und auf Verständnis hoffen.
Trauern zu können ist eine Gabe.
Lass dir das Recht auf deine Trauer nicht nehmen.

Ulrich Schaffer


im Kühlschrank liegt noch
ein Zitronenschnitz
immer ist ein Fremdwort
und Abschied passt in keinen Koffer

Sabina Naef


Abschied

Fern kann er nicht mehr sein,
der tod

Ich liege wach,
damit ich zwischen abendrot und morgenrot
mich an die finsternis gewöhne

Noch dämmert er,
der neue tag

Doch sag ich, ehe ich’s
nicht mehr vermag:
Lebt wohl!

Verneigt vor alten bäumen euch,
und grüßt mir alles schöne.

Reiner Kunze


Ich werde kein ungelebtes Leben sterben.
Ich werde nicht in Angst leben vorm Fallen oder Feuer fangen.

Ich wähle, meine Tage zu bewohnen,
und erlaube meiner Lebensweise, mich zu öffnen,
um mich weniger ängstlich sein zu lassen,
zugänglicher,
um mein Herz zu lösen,
bis es ein Flügel wird,
eine Fackel, ein Versprechen.

Ich wähle, meine Wichtigkeit zu riskieren;
so zu leben, dass das, was zu mir als Same kommt,
zum Nächsten als Blüte geht,
und das, was zu mir als Blüte kommt,
weiter geht, als eine Frucht.

Dawna Markova


Du bist ein Schatten am Tage

Du bist ein Schatten am Tage
Und in der Nacht ein Licht;
Du lebst in meiner Klage
Und stirbst im Herzen nicht.

Wo ich mein Zelt aufschlage,
Da wohnst du bei mir dicht;
Du bist mein Schatten am Tage
Und in der Nacht mein Licht.

Wo ich auch nach dir frage,
Find' ich von dir Bericht,
Du lebst in meiner Klage
Und stirbst im Herzen nicht.

Du bist ein Schatten am Tage
Und in der Nacht ein Licht;
Du lebst in meiner Klage
Und stirbst im Herzen nicht.

Friedrich Rückert


Welch ein Irrtum zu glauben,
das Leben sei da, uns gerecht zu werden.
Es ist ein Geschenk,
dem wir erst gerecht werden müssen.
Das Leben versagt sich keinem.
Nur wir versagen uns ihm – viel zu oft.

Christine Busta


Die Unermüdlichkeit der Drossel, da es
dunkelt, den Gesang zu erneuern.
Den Mut des Grases, nach so viel
Wintern zu grünen.
Die Geduld der Spinne, die ihrer Netze
Zerstörung nicht zählt.
Die Kraft im Nacken des Kleibers.
Das unveränderliche Wort der Krähen.
Das Schweigen der Fische gestern.
Den Fleiß der Holzwespen, die Leichtigkeit
ihrer Waben.
Die Unbestechlichkeit des Spiegels.
Die Wachheit der Uhr.
Den Schlaf der Larve im Acker.
Die Lust des Salamanders im Feuer.
Die Härte des Eises, das der Kälte
trotzt, doch schmilzt im Märzlicht der Liebe.
Die Glut des Holzes, wenn es verbrennt.
Die Armut des Winds.
Die Reinheit der Asche, die bleibt.

Rudolf Otto Wiemer


Bitte

Wir werden eingetaucht
und mit dem Wasser der Sintflut gewaschen
Wir werden durchnäßt
bis auf die Herzhaut

Der Wunsch nach der Landschaft
diesseits der Tränengrenze
taugt nicht
der Wunsch den Blütenfrühling zu halten
der Wunsch verschont zu bleiben
taugt nicht

Es taugt die Bitte
daß bei Sonnenaufgang die Taube
den Zweig vom Ölbaum bringe
Daß die Frucht so bunt wie die Blume sei
daß noch die Blätter der Rose am Boden
eine leuchtende Krone bilden

Und daß wir aus der Flut
daß wir aus der Löwengrube und dem feurigen Ofen
immer versehrter und immer heiler
stets von neuem
zu uns selbst
entlassen werden

Hilde Domin


Das ist der Traum

Das ist der Traum, den wir tragen,
daß etwas Wunderbares geschieht,
geschehen muß –
daß die Zeit sich öffnet,
daß das Herz sich öffnet,
daß Türen sich öffnen,
daß der Berg sich öffnet,
daß Quellen springen –
daß der Traum sich öffnet,
daß wir in einer Morgenstunde gleiten
in eine Bucht, um die wir nicht wußten.

Olav H. Hauge


Schweigen

Ihr habt das Schweigen nicht gesehn
Hinter den Hügelsenken.
In diesem Schweigen muß man stehn.
(Nur stehen. Und nicht denken.)
Wenn ich lange genug warten kann
In Kälte und in Schnee,
Höre ich da vom Wind ein Wort,
Das ich vielleicht versteh.
Danach wird alles anders sein.
Mein Wort wird davon schwer.
Wird eine Spur im Neuschnee sein
Und kommt vom Schweigen her.

Eva Strittmatter


Die Blätter fallen, fallen wie von weit,
als welkten in den Himmeln ferne Gärten;
sie fallen mit verneinender Gebärde.

Und in den Nächten fällt die schwere Erde
aus allen Sternen in die Einsamkeit.

Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.
Und sieh dir andre an: es ist in allen.

Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen
unendlich sanft in seinen Händen hält.

Rainer Maria Rilke


Noch bist du da

Noch bist du da
Wirf deine Angst
in die Luft

Bald
ist deine Zeit um
bald
wächst der Himmel
unter dem Gras
fallen deine Träume
ins Nirgends

Noch
duftet die Nelke
singt die Drossel
noch darfst du lieben
Worte verschenken
noch bist du da

Sei was du bist
Gib was du hast

Rose Ausländer


Bittgedanke, dir zu Füßen

Stirb früher als ich, um ein weniges
früher

Damit nicht du
den weg zum haus
allein zurückgehn mußt

Reiner Kunze


Chor der Wolken

Wir sind voller Seufzer, voller Blicke
Wir sind voller Lachen
Und zuweilen tragen wir eure Gesichter.
Wir sind euch nicht fern.
Wer weiß, wieviel von eurem Blute aufstieg
Und uns färbte?
Wer weiß, wieviel Tränen ihr durch unser Weinen
Vergossen habt? Wieviel Sehnsucht uns formte?
Sterbespieler sind wir
Gewöhnen euch sanft an den Tod.
Ihr Ungeübten, die in den Nächten nichts lernen.
Viele Engel sind euch gegeben
Aber ihr seht sie nicht.

Nelly Sachs


Manchmal

Manchmal scheint uns alles falsch und traurig,
wenn wir schwach und müd in Schmerzen liegen,
jede Regung will zur Trauer werden,
jede Freude hat gebrochne Flügel,
und wir lauschen sehnlich in die Weiten
ob von dorther neue Freude käme.

Aber keine Freude kommt, kein Schicksal
je von außen uns. Ins eigene Wesen
müssen wir, vorsichtige Gärtner, lauschen,
bis von dort mit Blumenangesichtern
neue Freuden wachsen, neue Kräfte.

Hermann Hesse


Elegie für Steven

Kein Wort vermag Unsagbares zu sagen.
Drum bleibe, was ich trage, ungesagt.
Und dir zuliebe will ich nicht mehr klagen.
Denn du, mein stolzer Sohn, hast nie geklagt.

Und hätt’ ich hundert Söhne: Keiner wäre
Mir je ein Trost für diesen, diesen einen!
Sagt ich: hundert? Ja, ich sagte hundert
Und meinte hundert. Und ich habe keinen.

Daß man doch lernte, sich vor ihm zu neigen,
Der grausam nimmt, was er so zögernd gab.
Solang mein Herz schlägt, ist darin dein Grab.
Ich setze dir ein Mal aus purem Schweigen.

Kein Wort. Kein Wort, Gefährte meiner Trauer!
Verwehte Blätter, treiben wir dahin.
Nicht, daß ich weine, Liebster, darf dich wundern,
Nur daß ich manchmal ohne Träne bin.

Mascha Kaléko


Engel des Übergangs

Lieber Gott, sage dem Engel an der Pforte des Alten,
er möge mich gehen lassen
und mich ermutigen, auch wenn ich zögere.

Und sage dem Engel an der Pforte des Neuen,
er möge mich erwarten
und nicht weggehen,
auch wenn ich etwas länger brauche.

Und, lieber Gott, sage dem Engel des Überganges,
er möge mich segnen, wenn ich losgehe,
er möge mich halten, wenn ich stehen bleibe,
er möge mich trösten, wenn ich stolpere,
und mich begrüßen, wenn ich ankomme.
Dass ich lache, wenn ich da bin. Amen.

Thies Gundlach